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agrarbericht

 +++ Update am 26. Mai 2020: "Wer verhindert die Agrarwende? - Von alten Strukturen und modernen Lobbymethoden - Eine Spurensuche" von Peter Kresyler +++

 +++ Update am 28. Apr 2020: "Aktuelles Beispiel: European Food Forum als Lobbyspeerspitze im Parlament" +++

 

Martin Häusling, in: Kritischer Agrarbericht 2020

 

Den Geldkoffer hat keiner dabei ...

Von direkten, subtilen und perfiden Lobbystrategien

 

Lobbyismus, d. h. die Vertretung von Interessen gegenüber Gesetzgebern, ist ein wesentlicher Be-standteil demokratischer Meinungsbildungs- und Politikabwägungsprozesse. Auf EU-Ebene wird der Begriff Lobbyismus deutlich neutraler benutzt als im deutschsprachigen Raum, wo er von vorn-herein negativ besetzt ist. Dass Lobbyismus jedoch immer auch durch Machtungleichgewichte ge-prägt ist, ist ebenfalls klar. Das Bild des geldkoffertragenden heimlichen Klinkenputzers im Anzug entspricht allerdings nicht der Realität. Von den unterschiedlichen Formen des Lobbyismus von Wirtschaftsvertretern, mit denen man (nicht nur) in Brüssel konfrontiert ist, handelt der folgende Beitrag eines EU-Abgeordneten. Einen Schwerpunkt bildet die gezielte Unterwanderung des Vorsor-geprinzips im Zusammenhang mit den neuen Gentechnikverfahren und mithilfe gezielter Lobby-arbeit seitens der Industrie im Vorfeld neuer Freihandelsabkommen.

 

Lobbyismus hat viele Facetten, mal mehr, mal weniger sichtbar. Dem geldkoffertragenden heimlichen Klin­kenputzer im Anzug begegnet man in der Realität al­lerdings nicht. Die Beeinflussung von Regelwerken auf EU­Ebene ist noch relativ gut dokumentierbar, geht es jedoch um Freihandelsabkommen, geschieht dies allerdings auch für Abgeordnete völlig unsichtbar. Zu den besonders unschönen Methoden gehört die Dif­famierung von Kritikern und die Beschneidung der Rechte und Handlungsmöglichkeiten von Nichtregie­rungsorganisationen (NGOs).

 

Die direkte Methode: Richtlinien selber schreiben

In einer 2018 von PAN­Europe, einer pestizidkriti­schen NGO, erstellten Studie mit dem Titel Industry writing its own rules wird belegt, wie die Chemiein­dustrie systematisch das Zulassungsverfahren von Pestiziden in den letzten 15 Jahren um­ und mitgestal­tet hat.1 Unter anderem wurde die Prüfmethodik in Europa der weniger strengen aus den USA angepasst. Die Standards für die von den Antragstellern beizu­bringenden Studien wurden von der OECD übernom­men, obwohl diese von vielen Wissenschaftlern als nicht ausreichend angesehen werden. Der Bericht hat nachgewiesen, dass in elf von zwölf Fällen die verwen­deten Verfahren zur Risikoprüfung von der Industrie entwickelt und dann von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) ohne Änderung übernommen wurden – ein klarer Interessenskon­flikt. Unabhängige Wissenschaftler und Forscher kä­men zudem beim Zulassungsverfahren von Pestiziden nicht ausreichend zu Wort. Das Beispiel Glyphosat hat spätestens ab 2015 mehr als deutlich gemacht: Je früher die Einflussnahme der Industrie im Zulassungsverfah­ren stattfindet, desto wirkungsvoller ist der Einfluss auf die Gesetzgebung und Umsetzung.2

 

Unschöner: Gegner diffamieren

Stehen dann allerdings kritische Wissenschaftler auf und äußern sich, wird es meist weniger elegant. Die sog. Monsanto­Papers (die von US­Anwälten ver­öffentlichte Korrespondenz des Konzerns zur Ver­schleierung der Risiken von Glyphosat) geben ei­nen Eindruck davon, wie die Industrie vorgeht, um Wissenschaftler mundtot zu machen.3 Aber auch auf EU­Ebene scheuen höchste Behördenvertreter nicht davor zurück, Kritiker zu diffamieren. Als der Chef der EFSA, Bernhard Url, renommierte unabhängige glyphosatkritische Wissenschaftler 2016 verunglimpf­te, sie würden »Facebook science« betreiben, erinnerte das fatal an die Behauptung von Monsanto, die Inter­nationale Krebsagentur (IARC) würde »junk science« produzieren. Nur kam diese Äußerung nicht von ei­nem Konzern, sondern von einem Behördenvertreter. Es ist schon eine sehr hohe, aber ausgesprochen unerfreuliche Erfolgsstufe von Lobbying, wenn sich Behördenvertreter derart einseitig positionieren und unwissenschaftlich argumentieren, sich gleichzeitig aber auf eine »wissenschaftsbasierte« Entscheidungs­findung berufen.

 

Subtiler: Begriff positiv besetzen

Ein Beispiel dafür, wie man knallharte Wirtschafts­strategien mit gesellschaftlich positiv besetzten Begrif­fen verschleiern kann, ist das sog. »Innovationsprin­zip«. Eine Wortschöpfung der Privatwirtschaft, die eine generelle Offenheit gegenüber neuen Techniken suggerieren soll. Das klingt modern, schwungvoll, zu­kunftsorientiert! Man hat direkt ein junges erfolgrei­ches Start­up vor Augen, das man fördern und von ausbremsenden bürokratischen Fesseln befreien will. Gegen so ein Prinzip kann man ja prinzipiell nichts ha­ben, oder? Sicher, grundsätzlich nicht. Aber es ist auf­fällig, dass dieses »Innovationsprinzip« massiv und fast ausschließlich von Chemie­ und IT­Firmen themati­siert und eingefordert wird, wie etwa BASF und Bayer, Dow Chemical Company, Novartis, Computerunter­nehmen wie IBM oder dem Agrarkonzern Syngenta.

Dass es keine Initiative von kleinen und mittleren Unternehmen mit Bezug zur Nachhaltigkeit ist, lässt sich durch einen Brief belegen, den die oben genann­ten und weitere internationale Konzerne während der Konjunkturkrise der EU 2013 an den damaligen Kommissionspräsidenten Barroso, den Ratspräsident Rompuy und den Parlamentspräsident Schulz ge­schrieben haben, mit dem Titel »Innovationsprinzip« und dem Untertitel: »Stimulierung der Konjunktur­erholung«.4 Dort äußern die am Ende des Briefes na­mentlich unterschreibenden Vertreter der Konzerne tiefe Besorgnis über »die negativen Auswirkungen von neuen Entwicklungen im Bereich Risikomanagement und regulatorischer Richtlinien auf die Innovations­landschaft in Europa«. Sie kritisieren, das notwendige Gleichgewicht von Vorsorge und Verhältnismäßigkeit sei gestört, da zu sehr auf das Vorsorgeprinzip und das Vermeiden technologischer Risiken gesetzt werde. Besonders betroffen seien eine Reihe von chemischen, landwirtschaftlichen und medizinischen Technolo­gien, deren soziale und ökonomische Vorteile unbe­stritten seien, in deren Regulierungsprozess jedoch zu sehr auf Risikovermeidung unter Verlust wissen­schaftlichen Vorgehens gesetzt werde.

Damit ist die Katze aus dem Sack: Die Einführung von Medikamenten, Holzschutzmitteln, Pestiziden oder eben gentechnisch veränderten Pflanzen soll nicht weiter durch ein lästiges Vorsorgeprinzip ausge­bremst werden. Es geht also, wie der Bundestagsabge­ordnete Harald Ebner es treffend formuliert hat, nicht um ein »Innovations­«, sondern eigentlich um ein »Bedenken­Second­Prinzip«, welches dem gesetzlich verankerten Vorsorgeprinzip konkurrierend gegen­übergestellt wird, um dieses als übertrieben vorsichtig aussehen zu lassen.

Die weltweit einzigartige, auf den Druck engagierter Umwelt­ und zivilgesellschaftlicher Gruppen in den letzten 20 Jahren in Richtlinien gegossene Errungen­schaft des europäischen Vorsorgeprinzips wurde von Anfang an von der Industrie massiv bekämpft. Die­se ist anscheinend noch nicht bereit, Europa für das Ziel eines deutlich weniger regulierten Wachstums verloren zu geben. Hat man es doch in der restlichen Welt überwiegend nicht mit derart »restriktiven« Zu­lassungsprozessen und Nachweisauflagen zu tun. Das kann man so aber natürlich nicht schreiben. Da muss ein glatter, sympathiebesetzter Begriff her, gegen den niemand etwas haben kann. Und wer hat schon etwas gegen Innovation? Die Einschleusung des Begriffs war auch erfolgreich: Das »Innovationsprinzip« wurde in­zwischen in den REFIT­Prozess der EU­Kommission übernommen, der die Verbesserung bestehender EU­Rechtsvorschriften zum Ziel hat5 und taucht in fast allen neuen EU­Initiativen auf.

 

Zielgruppengenaue Meinungssteuerung

Ein weiteres Beispiel ist die strategische Absprache der Gentechnikindustrie zur Kommunikation über CRISPR/Cas und Co. Das EuGH­Urteil vom Juli 2018 hat klargestellt, dass die neuen molekularen Verfahren wie CRISPR/Cas nichts anderes als Gentechnik sind und entsprechend nach dem europäischen Gentech­nikrecht zu regulieren sind. Dies aber stört die Stra­tegie der Konzerne, im Zusammenhang mit CRISPR/Cas dieses in der europäischen Gesellschaft negativ besetzte Wort zu vermeiden – und vor allem eine ent­sprechende Kennzeichnung der Produkte. Daher hat der Dachverband der Saatgutindustrie einen Kommu­nikationsleitfaden für den internen Gebrauch verfasst, der jedoch von der Umweltorganisation Global 2000 im Jahr 2017 veröffentlicht wurde.6 Unter dem Dach des weltweiten Verbandes befinden sich namhafte Agrar­ und Gentechnikkonzerne wie Bayer, Syngenta, Dow Agroscience oder DuPont Pioneer. Um CRISPR möglichst vielen Menschen schmackhaft zu machen, wurden in dem geleakten Leitfaden drei Zielgruppen identifiziert (Konsumenten, Bauern und Umwelt­schützer), die von den »innovativen Methoden« be­sonders profitieren sollten. Wichtigster Grundsatz der Kommunikationsstrategie: »Erzählen Sie von Innova­tion, aber sagen Sie niemals ›Gentechnik‹ zu CRISPR«.

Die drei Zielgruppen sollen mit folgenden Be­hauptungen adressiert werden: »Lebensmittel sind nährstoffreicher; glutenfreies Getreide ist möglich; allergenarme Lebensmittel wären denkbar; besseres Saatgut bringt stabile Ernten trotz Klimawandel; ver­besserte Pflanzen könnten sich gegen Krankheiten und Schädlinge selber wehren; man könnte große Mengen an Pestiziden einsparen; höhere Ernten und weniger Platzbedarf bedeutet, dass man weniger Wäl­der roden müsste.« Und so weiter.

Des Weiteren heißt es: »Vermitteln Sie, wie aufre­gend Sie die Möglichkeiten der ›Innovativen Pflan­zenzüchtung‹ finden. – CRISPR funktioniert wie eine ›Gen­Schere‹, CRISPR schneidet präzise, die Ergeb­nisse sind nicht von jenen der konventionellen Züch­tung unterscheidbar, CRISPR kann helfen, die Welt zu ernähren und dem Klimawandel beizukommen – ohne wird es schwierig.« Es ist beeindruckend, in wel­cher Geschwindigkeit diese sämtlich unbewiesenen Behauptungen völlig unhinterfragt in vielen Leitme­dien von Journalisten als Tatsachen verkauft wurden, teilweise ohne ansatzweise auf Bedenken, Kritik oder offene Fragen hinzuweisen. Auf Twitter braucht man bloß einen gentechnikkritischen Tweet abzusetzen und wird sogleich von einer ganzen Flutwelle über­wiegend unsachlicher Behauptungen und persönli­cher Diffamierungen überschwemmt. Auch hier ist die Technik der Meinungssteuerung, zumindest was die Medien angeht, bisher sehr erfolgreich.

 

Deregulierung durch Handelsabkommen

Im März 2019 erklärten die im Mercosur­Länderbund vertretenen südamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay gegenüber der Welthandelsorganisation WTO, dass sie eine Un­terscheidung von Produkten, die mit den neuen Gen­technikmethoden hergestellt wurden, und solchen aus normaler Züchtung als Handelshemmnis interpretie­ren und sich dagegen wehren wollen.7 Während die EU­Kommission wiederholt betont, dass sie die euro­päischen Standards nicht von Mercosur untergraben lassen will und das Vorsorgeprinzip auf jeden Fall ver­teidigen will, stellt man dann verwundert fest, dass die europäischen Handelsvertreter es wohl doch nicht so verinnerlicht haben, was »Verteidigung des Vorsorge­prinzips« genau bedeutet. Denn im vorläufigen Text des Mercosur­Abkommens8 findet sich der Passus: »Zu Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung der Agrarbiotechnologie haben die Vertragsparteien vereinbart, Informationen über Strategien, Rechtsvor­schriften, Leitlinien, bewährte Verfahren und Projekte für Agrarbiotechnologieprodukte sowie über spezifi­sche Themen der Biotechnologie auszutauschen, die den Handel beeinträchtigen können.« Das klingt erst mal harmlos, aber die Formulierung enthält eindeutig das Angebot, das europäische Vorsorgeprinzip bzw. Rechtsvorschriften zur europäischen Gentechnik­oder Chemikalienpolitik gerne noch mal zur Diskus­sion zu stellen, falls der Handelspartner sich zu sehr daran stört. Zweifellos ein Erfolg der Lobbyarbeit, wenn nun im Zuge neuer Handelsabkommen Hemm­nisse, die den »Freihandel« angeblich beeinträchtigen, genauso ausgeräumt werden sollen wie die, die »Inno­vation« hemmen.

Dem Druck, das europäische Zulassungsverfahren für gentechnisch veränderte Organismen mit seinem Risikomanagement und seiner Kennzeichnungspflicht zur überarbeiten, wird so mit dem Mercosur­Abkom­men (aber auch mit jedem anderen »Freihandelsab­kommen« mit ähnlichen Textpassagen) Tür und Tor geöffnet. Die Behandlung der Agrarbiotechnologie seitens Europas nach dem Vorsorgeprinzip wird seit Langem, besonders von den USA, als absichtlich aufgestelltes Handelshemmnis bewertet. Schon 2003 ging auch Kanada, unterstützt von den USA, China, Argentinien, Brasilien, Australien und diversen wei­teren Staaten gegen das damalige Moratorium bei der Zulassung von Gentechnikpflanzen in der EU vor.9 Auch das europäisch­kanadische Handelsabkommen Ceta enthält ein Kapitel zur Kooperation bei Fragen der Biotechnologie, das klar gentechnikfreundlich for­muliert ist.10

Der Stolz, mit dem in öffentlichen Reden die Ver­treter der EU­Kommission die europäischen Errun­genschaften fortschrittlicher Gesetzgebung und hoher Standards wiederholen und vor sich her tragen, klingt hohl, wenn gleichzeitig diese Sichtweise den eigenen Handelsvertretern nicht vermittelt wird. Oder ist das inzwischen zweitrangig? In der »Ära Trump«, in der Handelskonflikte unvorhersehbar über Nacht entste­hen und die geschmeidige Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA bedroht scheint, meinen viele anscheinend, dass Handelsabkommen mit jedem ab­geschlossen werden müssen, der gerade greifbar ist. China steht ja als große Handelsmacht im Hinter­grund und zur Hegemonie bereit. Und anscheinend darf man dann aus Sicht der EU­Verhandler alles als Verhandlungsmasse anbieten. Aber so schlicht ist es nicht. Es dürfte eher so sein, dass der ideologische Zwang zum Freihandel gegen China es den Lobbyis­ten, die schon immer Standards senken wollten, ein­fach nur unheimlich leicht macht, diese Ziele abseits öffentlicher Wahrnehmung auch durchzusetzen.

 

Unterwanderung von Konferenzen

Besonders die Gentechnikindustrie ist hier aktiv: Cor­porate Europe Observatory (CEO), eine lobbykritische NGO, hat Aktivitäten und Taktiken dokumentiert, die generalstabsmäßig geplant wurden, um UN­Konferen­zen zur Biosicherheit zu beeinflussen. Dazu gehörten Interventionen auf Nebenveranstaltungen zur »Bekämpfung von Fehlinformationen« und sogar Trai­nings und Schulungen von Studentendelegationen. Bei der Vertragsstaatenkonferenz des UN­Überein­kommens über die biologische Vielfalt (CBD) in Can­cún beteiligte sich so eine Delegation internationaler, vorher geschulter Studenten in auffälliger Weise an der Wissenschaftskommunikation mit Delegierten. Die Studenten setzten Emotionen und Aggression ein und belästigten mit lautstarken Angriffen junge Teilneh­mer des Global Youth Biodiversity Network (GYBN), der offiziellen Koordinationsplattform für die Betei­ligung junger Menschen am CBD, mit der Aussage, dass ihr Ansatz zur Wahrung des Vorsorgeprinzips dem technologischen Fortschritt und dem menschli­chen Wohlbefinden abträglich wäre.11 Diese Form der Manipulation und Unterwanderung fällt auf, wenn die geschulten Studenten übertreiben, aber fällt sie uns auch auf, wenn diese sich zivilisierter benehmen?

 

Zurückdrängen unliebsamer Stimmen

Seitdem mithilfe der Social Media relativ schnell gro­ßer Druck über Öffentlichkeitsarbeit aufgebaut wer­den kann, wird jahrelanger Lobbyeinfluss hinter den Kulissen schnell mal durch ein paar Tage Twitter­und Presseecho konterkariert. Was früher Monate, ja manchmal Jahre dauerte, bis Kampagnen zur Boykot­tierung eines Konzerns Wirkung zeigten (z. B. Einlen­ken in die Einhaltung von Umweltauflagen), das kann sich heute in Tagen oder Wochen ereignen. Und die Mobilisierung lässt sich jederzeit schnell wiederholen. Prominentestes Beispiel ist hier sicher der Atomaus­stieg und die eingeleitete Energiewende nach Fukushi­ma. Die sehr laute und dauerhafte Kritik am geplanten Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) ist ein weiteres Beispiel, auch wenn letztendlich der Unwille des aktuellen amerikanischen Präsidenten zum (vor­übergehenden?) Abbruch der Verhandlungen führte.

Während Ex­Agrarministerin Aigner anlässlich der »Wir­haben­es­satt!«­Demo 2012 den Demonstranten »Rücksichtslosigkeit« gegenüber den Hungernden der Welt vorwarf, ging der CDU­Bundestagsabgeordne­te Joachim Pfeiffer einen Schritt weiter und stopfte gleich alle in einen Diffamierungssack, nannte die TTIP­Kritiker uninformiert und sprach von »Empö­rungsindustrie«. Inzwischen gibt es mehr und mehr Vorstöße, vorrangig konservativer Kollegen, die koor­dinierte Interessenvertretung der Zivilgesellschaft bei bestimmten NGOs zu beschneiden. Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit bei attac 2014 und bei Campact 2019 waren die ersten Fälle gemäß dieser Strategie. Seitdem wird auf mehreren Ebenen versucht, wirt­schaftskritischen NGOs den Geldhahn abzudrehen oder ihre Arbeit zu erschweren. Der EU­Abgeordnete Markus Pieper (CDU) forderte 2017 die Kommission in einem Berichtsentwurf auf, nicht länger NGOs zu fördern, die den »strategischen Handels­ und Sicher­heitszielen« der EU widersprechen. Bei der 1957 ge­gründeten Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik mit Sitz in Bonn, die zum Ziel hat, »die Kenntnis über zentrale Themen der Sicherheits­ und Verteidigungs­politik sowie der Wehr­ und Sicherheitstechnik und der Verteidigungswirtschaft zu fördern«, stellt ande­rerseits niemand in Frage, ob ihr Wirken als »gemein­nützig« gelten kann.

 

Lobbyismus – ja, aber fair & transparent

Lobbyismus ist, wie gesagt, die legitime Vertretung von Interessen gegenüber Gesetzgebern und der Öffentlichkeit. Sobald versucht wird, abseits der Öffent­lichkeit und mit versteckten Mitteln zu beeinflussen, wird es undemokratisch, weil die öffentliche Über­prüfbarkeit der Beeinflussung und der Meinungsbil­dung nicht mehr stattfinden kann. Es wird sicher nicht völlig zu verhindern sein, dass so etwas passiert. Doch die Möglichkeiten der versteckten und unfairen Ein­flussnahme müssen eingegrenzt werden – und wenn solche intransparenten Einflussnahmen beobachtet werden, sollten sie konsequent öffentlich gemacht werden. Dazu bedarf es deutlich mehr Transparenz über die Besetzung und Aktivitäten von Behörden und über die Aktivitäten von Interessenvertretern. Ganz wichtig ist aber auch, eine robuste Absicherung von Hinweisgebern (whistle blower).

Die Art und Weise, wie heute Handelsverträge, die das Leben der Bürger grundlegend beeinflussen, noch hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden, öffnet Lobbyismus Tür und Tor und ist nicht mehr zeitgemäß. Bei den Fragen der ökonomischen, ökolo­gischen und sozialen Nachhaltigkeit, die massiv von Handelsverträgen mitgestaltet wird, haben Bürgerin­nen und Bürger ein Mitspracherecht und das nicht nur über Parlamente, die früher und mehr beteiligt werden müssen, sondern auch über zivilgesellschaftliche Grup­pen, die ebenso an den Verhandlungstisch gehören.

 

Das Thema im Kritischen Agrarbericht

  • Nina Katzemich: Im Schatten der Politik. Die Macht der Agrar- und Pestizidlobby in Brüssel. In: Der kritische Agrarbericht 2019, S. 66–72.
  • Heike Moldenhauer und Peter Clausing: Eine unheilige Allianz. Was Behörden und Monsanto alles tun, um Glyphosat durchs Zulassungsverfahren zu bringen. In: Der kritische Agrarbericht 2018, S. 202–207.
  • Martin Häusling: Profitinteressen versus Vorsorgeprinzip. Zur Auseinandersetzung um die erneute Zulassung von Glyphosat – eine Chronik. In: Der kritische Agrarbericht 2017, S. 58–62.
  • Christof Potthof, Anne Bundschuh und Taarini Chopra: Weltweit und unaufhaltsam? Wie die Industrielobby die Wachstumsraten bei der Agro-Gentechnik schönt – eine kritische Analyse der ISAAA. In: Der kritische Agrarbericht 2017, S. 271–276.
  • Christoph Then: Gentechnik, die keine sein soll ... Wie die Indus-trie versucht, neue Gentechnik-Verfahren bei Pflanzen und Tieren als konventionelle Züchtung einzustufen. In: Der kriti-sche Agrarbericht 2016, S. 277–282.
  • Heike Moldenhauer und Peter Clausing: »Wahrscheinlich krebserregend«. Kritik am aktuellen Wiederzulassungsverfahren für Glyphosat – Forderungen an die Bundesregierung. In: Der kritische Agrarbericht 2016, S. 64–73.
  • Friedrich Ostendorff und Veikko Heintz: Man kennt sich, man schätzt sich, man schützt sich ... Einblicke in das Netzwerk aus Agrar- und Ernährungswirtschaft, Spitzenverbänden und Poli-tik. In: Der kritische Agrarbericht 2015, S. 53–58.

 

Anmerkungen

1 Pesticide Action Network Europe: Industry writing its own rules. Brussels 2018 (www.pan-europe.info/sites/pan-europe.info/files/public/resources/reports/industry-writings-its-own-rules-pdf.pdf).

2 Siehe hierzu auch M. Häusling: Die Uhr tickt. Zunehmende Prob-leme beim Pestizideinsatz erfordern entschiedenes Umdenken. In: Der kritische Agrarbericht 2019, S. 50-55 (www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2019/KAB2019_50_55_Haeusling.pdf).

3 Gen-ethisches Netzwerk: Die Monsanto Papers und Corporate Science. Einblicke in die Wissenschaftspraxis des Konzerns (www.gen-ethisches-netzwerk.de/agrobusiness/wissenschafts-kritik/die-monsanto-papers-und-corporate-science#footnote5_69uzf04) – Siehe auch den Fall des Gen-technikwissenschaftlers Gilles-Eric Séralini: www.gmoseralini.org/seralinis-team-wins-defamation-and-forgery-court-cases-on-gmo-and-pesticide-research/.

4 European Risk Forum (ERF): The innovation principle – »Stimula-ting economic recovery«, dated 9. October 2013 (www.riskfo-rum.eu/uploads/2/5/7/1/25710097/innovation_principle_letter.pdf). – Die folgenden Passagen zitieren in deutscher Überset-zung aus dem Brief.

5 European Commission: Minutes of the joint meeting of the REFIT platform‘s government group and stakeholder group on 21. September 2017 (https://ec.europa.eu/info/events/refit-joint-group-meeting-21-september-2017-sep-21_en).

6 International Seed Federation (ISF): How to talk about plant breeding innovation. A discussion guide, February 2017 (www.global2000.at/sites/global/files/2017-Discussion-Guide-PBI-ISF.pdf).

7 https://kurzlink.de/WTO-CAS-Gentechnik.

8 New EU-Mercosur trade agreement. The agreement in principle. Brussels, 1. July 2019 (http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2019/june/tradoc_157964.pdf).

9 World Trade Organization (WTO): European Communities – Measures affecting the approval and marketing of biotech pro-ducts (Dispute Settlement 292) (www.wto.org/english/tratop_e/dispu_e/cases_e/ds292_e.htm).

10 Umweltinstitut München: CETA und Gentechnik (9. Februar 2017) (www.umweltinstitut.org/fileadmin/Mediapool/Down-loads/01_Themen/03_Verbraucherschutz/Freihandelsabkom-men/CETA/20170209_CETA_und_Gentechnik_deutsch.pdf).

11 Siehe die Berichte von Teilnehmern auf der Website von CEO: https://corporateeurope.org/en/food-and-agriculture/2018/06/biosafety-danger#sdfootnote41anc.

 

Quelle: https://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2020/KAB2020_54_58_Haeusling.pdf