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HNA-Interview vom 8. März 2018 - „Das System stinkt vom Kopf her“

Der EU-Politiker der Grünen Martin Häusling erklärt im HNA-Interview, warum er die Artenvielfalt durch den Einsatz von Glyphosat in der Landwirtschaft bedroht sieht. Die Glyphosat-Debatte beschäftigt weiter die Region. Das Herbizid gilt als wahrscheinlich krebserregend und als Artenkiller. Trotzdem darf es für weitere fünf Jahre in der EU-Landwirtschaft eingesetzt werden. Auch der Vertreter des deutschen Landwirtschaftsministeriums stimmte in Brüssel für die Verlängerung der Zulassung des umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels. Martin Häusling ist Bio-Bauer seit 1988. Er bewirtschaftet den Kellerwaldhof in Bad Zwesten nach Bioland-Richtlinien. Zudem ist er seit 2009 EU-Politiker, der für die Grünen im EU-Parlament sitzt. Landwirtschaft und Umwelt sind seine Themen. Am Freitag, 9. März, wird er in Espenau einen Vortrag zum Thema Artensterben in der Agrarlandschaft halten.

Herr Häusling, wie steht es im Landkreis Kassel um den Artenschwund?

Martin Häusling: Im Landkreis Kassel ist die Landwirtschaft nicht ganz so intensiv, wie in manchen Teilen Niedersachsens oder NRWs, jedoch kommen auch hier regelmäßig Pestizide zum Einsatz. Totalherbizide töten jedes pflanzliche Leben auf dem Acker, so bleibt nicht genug Nahrung für Insekten und auch für Vögel. Insektizide töten alle Insekten direkt – und leider nicht nur die Schädlinge. Fungizide töten nicht nur Schad-Pilze, sondern auch nützliche im Boden. So ist es erwartbar, dass auch im Landkreis Kassel die Artenvielfalt zurückgeht. Hinzu kommt: In einer Landschaft, in der es nur noch Hochleistungsnutzpflanzen gibt und auch die nur noch in engen Fruchtfolgen, finden Insekten und Vögel sowohl weniger Nahrung als auch Schutz für die Reproduktion.

Ist Glyphosat dafür verantwortlich oder allgemein die konventionelle Landwirtschaft?

Häusling: Es ist ganz allgemein der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, der die Artenvielfalt zurückgehen lässt. Denn diese sind ja fast alle von der Wirkung her „Biozide“, also dafür entwickelt, biologisches Leben abzutöten. Glyphosat ist deshalb so stark im Fokus, weil es extrem breit wirkt und sehr häufig eingesetzt wird. Zudem wurde es lange als „Bodenschutzmittel“ angepriesen und als Ersatz für den Pflug sogar durch Agrarumweltmaßnahmen für die Erosionsvermeidung gefördert.

Es wird wohl kaum Landwirte geben, die gerne die Natur vergiften. Dennoch wird überall Chemie verwendet. Können die Landwirte nicht anders?

Häusling: Sowohl in der Ausbildung, als auch in der Beratung und Fortbildung und auch in der landwirtschaftlichen Fachliteratur haben Landwirte in den letzten 20 Jahren kaum Informationen darüber erhalten, wie es anders geht. Die Öko-Landwirte machen es ja anders, es muss also gehen. Nur muss dieses Wissen auch in Ausbildung, Studium und Beratung Eingang finden, sonst haben Auszubildende und Studenten keine Wahlfreiheit.

Unter welchen Zwängen stehen Landwirte?

Häusling: Das aufzuzählen würde wohl zwei Tage dauern. Nein, im Ernst: Ich denke, es geht darum, für Lebensmittel, die ressourcenschonend und ökologisch nachhaltig erzeugt werden, auch den angemessenen Preis zu bekommen. Bei Öko-Bauern klappt das häufiger, aber wir haben da insgesamt noch eine große Lücke. Die Preise, die Kunden zahlen, geben bei konventionellen Lebensmitteln nicht die wahren Kosten wieder: Humusschwund, Bodenverdichtung, Wasserbelastung, Bienenschwund, Antibiotikabelastung von Lebensmitteln. Die Nachsorge zahlt bisher die Gesellschaft, aber das ist vom System her komplett falsch.

Inwieweit ist dafür die EU-Agrarpolitik überhaupt verantwortlich?

Häusling: Die EU-Agrarpolitik hat bisher, von ein paar Korrektürchen und Sondernischen abgesehen, immer auf die Erzeugung schneller, wachsender Masse für den Export gesetzt und nicht wirklich auf Ressourcenschutz oder ein auskömmliches Einkommen der Mehrzahl der Betriebe.

Das System stinkt vom Kopf her. Nach dem, was wir heute wissen, könnte zum Beispiel der Öko-Landbau die allermeisten Herausforderungen der Landwirtschaft – vom Klimaschutz über den Boden- und Wasserschutz bis zum Tierschutz – besser meistern, als das konventionelle Pendant.

In Brüssel agieren starke Lobby-Verbände großer Agrar- und Nahrungsmittelkonzerne. Inwieweit nehmen diese Einfluss auf die allgegenwärtige Agrarpraxis in der EU?

Häusling: Sie nehmen – genau wie in Berlin auch – großen Einfluss. Die Landwirtschafts- und Nahrungsmittelindustrie-Lobby ist in Brüssel die mächtigste, noch mächtiger als die Automobilindustrie. Lobbyisten sitzen in vielen Gremien und beraten. Aber manche Abgeordnete müssen gar nicht lobbyiert werden. Einige meiner Kollegen glauben einfach, dass höher, schneller, weiter, größer im Agrarbereich immer noch Sinn macht.