Grüne Europagruppe Grüne EFA

ZEIT von Christiane Grefe

Ein Gift mit Zukunft ...
... oder kommt das Aus für Glyphosat in der Landwirtschaft? Die EU muss bald entscheiden - der Streit spitzt sich zu

Wer die Wahrheit hinter Glyphosat sucht, riskiert Verwirrung: "Wir vertreten die Bürger! Was sollen wir ihnen antworten, wenn wir hier so unterschiedliche Auffassungen hören?" Der EU-Abgeordnete Alojz Peterle war nicht allein mit seiner Ratlosigkeit. Letzte Woche saß der Slowene in einem Hearing, das die Ausschüsse für Landwirtschaft und Umwelt anberaumt hatten. Beide Parlamentsgremien wollten endlich Klarheit gewinnen: Ist das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat nun riskant für die Gesundheit oder nicht? Doch nach der Expertenbefragung fühlten sich viele Volksvertreter kaum klüger.
Die Kontroverse über Risiken und Nebenwirkungen des weltweit meistverkauften Herbizids spitzt sich kurz vor dem Entscheidungs-Showdown in Europa noch einmal zu. Am 25. Oktober wird der EU-Kommissar Vytenis Andriukaitis die Regierungen erneut zusammenrufen. Dann sollen sie sich endlich über die Wiederzulassung des Wirkstoffs verständigen, denn die vorläufige Genehmigung läuft Ende des Jahres definitiv aus. Und eine Einigung ist nicht in Sicht.
Dabei steigt der Druck: Eine Europäische Bürgerinitiative mit 1,3 Millionen Unterzeichnern fordert ein Glyphosat-Verbot. Für diesen Fall drohen die Hersteller im Gegenzug mit Klagen. Seit zwei Jahren währt der Konflikt nun schon, begleitet von Medienberichten über Krebsopfer, insektenfreie Ackerfluren und Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Industrie.
Was ist Mutmaßung, was Halbwahrheit, was Tatsache? Und spricht man zu Recht von einem Skandal? Die EU-Abgeordneten sind nicht die Einzigen, die bei dem Krimi nicht mehr wissen, wer bei welcher Frage die Guten oder die Bösen sind. Eine Gewissheit gibt es im Gewirr der Widersprüche und Interessen immerhin: Über seine chemischen Eigenschaften hinaus ist Glyphosat zu einer politischen Metapher geworden. Der Name steht für eine Vielzahl aufgeschobener Konflikte.
Kurze Rückschau: In den siebziger Jahren bringt Monsanto das Mittel auf den Markt, als Wirkstoff des Herbizids Roundup. Dieses wird schnell zum Verkaufsschlager. Weil es Unkräuter und Gräser vorbeugend abtötet, verschafft es dem angebauten Mais, Raps oder Weizen freie Bahn. So sparen Bauern Zeit und Geld, weil sie ihre Felder nicht mehr pflügen müssen. Zudem soll das Zaubermittel auch noch unschädlich sein für Umwelt und Gesundheit.
Zwar misstrauen Umweltschützer diesen Versprechungen von Anfang an, doch so richtig eskaliert die Debatte erst im Sommer 2015. Da brandmarkt die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation (IARC) das Totalherbizid als "wahrscheinlich krebserregend" - und stellt sich damit in Widerspruch zu einer Unbedenklichkeitserklärung, die das deutsche Bundesamt für Risikobewertung (BfR) ausgestellt hat. Dessen Prüfer sollten eine Faktengrundlage für die fällige neue Genehmigung liefern. Ihrem entlastenden Votum schloss sich die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) an. Seither streiten Wissenschaftler und Politiker erbittert, ob der Daumen für Glyphosat hoch- oder runtergehen soll.
Und dabei werden auch größere Fragen mitverhandelt: Wie soll sich die Landwirtschaft in Zukunft entwickeln, in Deutschland, in Europa, global? Und was muss sich ändern im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, Politik und Gesellschaft?
Zwischen Wissenschaft und Industrie herrsche keine Waffengleichheit, heißt es
Die Glyphosat-Entwarner sehen als Kern des Problems, dass eine reine Fachfrage politisch aufgeladen worden sei. In ihren Augen mobilisieren grüne Politiker und Nichtregierungsorganisationen eine "hysterisierte" Öffentlichkeit gegen die "vernünftige" Einschätzung der Experten. Er selber dürfe sich "nicht über die Wissenschaftlichkeit stellen": So begründete etwa CSU-Landwirtschaftsminister Christian Schmidt sein Votum für Glyphosat. Im gleichen Duktus urteilt EU-Kommissar Andriukaitis. Politische Meinungen könnten "weitgehend akzeptierte wissenschaftliche Ansichten nicht aufheben". Damit verweisen beide auf eine Trennung der Sphären, wie sie für die Demokratie unabdingbar ist: Auf der einen Seite müssen Forscher unabhängig urteilen. Auf der anderen erwarten Politiker unparteiliche Beratung, da ihr Handeln ohne seriöse Datengrundlage anfechtbar wird.
Auch die Urteile von NGOs sollten auf Fakten gründen. Doch so manche medienträchtige "Aufklärungs"-Aktion hat übertriebene Ängste geschürt. "Die Gesundheit von 500 Millionen EU-Bürgern steht auf dem Spiel" - es gibt Hinweise für einzelne Gruppen, aber keinen harten wissenschaftlichen Beleg für so einen dramatischen Satz. Die WHO-Agentur IARC hatte, als sie den Krebsverdacht äußerte, als empirische Grundlage für ihr Urteil keine breiten Bevölkerungsstudien zur Hand, sondern solche mit Landwirten, die dem Herbizid regelmäßig direkt ausgesetzt waren.
Dennoch machen es sich die Hüter der unbeeinflussbaren Wissenschaft zu leicht, wenn sie wie der Präsident des BfR Andreas Hensel Kritik mit der Behauptung abwehren, "in die Mühlen einer politisierten Diskussion geraten" zu sein. Die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation gilt weltweit als Autorität. Umgekehrt bewegen sich auch die Risikobewerter nicht auf einem politikfreien Feld. Erstens haben sie ihren Auftrag von den EU-Regierungen erhalten, zweitens dürfen sie laut Gesetz als staatliche Behörden keine eigenen Studien vornehmen. Die gewichtigste Grundlage bei der Bewertung eines Wirkstoffs sind die Tests und Studien der Hersteller - Unabhängigkeit sieht anders aus.
Diese Konstellation hat einen Grund: Nicht der Steuerzahler soll für die Kosten der Risikobewertung aufkommen, sondern das Unternehmen, das künftig an einem Wirkstoff verdient. Natürlich prüfen die offiziellen Stellen die Angaben der Firmen, lesen unabhängige Studien, organisieren Anhörungen. Aber Teile der Industriedossiers bleiben aus Wettbewerbsgründen auch in den Schubladen - mit der Folge, dass vieles nicht kritisch zu hinterfragen ist.
In dieser Nähe zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten liegt der entscheidende Unterschied zwischen der Arbeit des Bundesamts für Risikobewertung (BfR) und jener der Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation. Die Fachleute der IARC nämlich bewerten ausschließlich Studien, die öffentlich zugänglich sind. Firmeneigene Ergebnisse mit Geheimhaltungsvorschrift sind für sie tabu. Das Gremium gilt auch deshalb als besonders glaubwürdig - entsprechend schwer wiegt sein Krebsverdacht.
Das Unbedenklichkeits-Gutachten der Risikoforscher dagegen weckte jüngst konkrete Zweifel an der Distanz zur Industrie, als die österreichische Umweltorganisation Global 2000 zahlreiche "Plagiate" an den Pranger stellte. Ganze Textpassagen hatten die Autoren des Bundesamts aus den Industriedossiers übernommen, teils ohne Quellenangaben - wie sie in wissenschaftlichen Publikationen gefordert sind. Die Erklärung des BfR-Präsidenten: Solche Übernahmen seien gängige Praxis, wenn die Industriebewertung mit derjenigen des Amtes übereinstimme.
Martin Pigeon von der Anti-Lobby-Organisation Corporate Europe Observatory hat das "nicht beruhigt". In so einer Copy-and-paste-Wissenschaft erkennt er ein weiteres Problem: "Zwischen den Antragstellern und ihren Kontrolleuren herrscht keine Waffengleichheit", sagte er im EU-Parlament. Bei der Bewältigung enormer Datenmengen seien spärlich ausgestattete Behörden den Forschungsabteilungen einer Milliardenindustrie nicht gewachsen.
Schon davor schürten die "Monsanto Papers" das Misstrauen, der Agrarkonzern könnte die Arbeit von Behörden und Forschern beeinflusst haben. Amerikanische Rechtsanwälte hatten die Veröffentlichung dieser internen Konzernkorrespondenzen erfochten. In den USA, dem Stammland des Glyphosat-Einsatzes, sind rund 3500 Kläger, größtenteils Landwirte, gegen Monsanto vor Gericht gezogen. Sie fordern Schadenersatz, weil sie sich über die Risiken des Gifts falsch informiert fühlen oder dem Mittel die Schuld für ihre eigene Krebserkrankung geben. Im Dezember soll ein Richter entscheiden, ob es zum Prozess kommt. Tatsächlich nährt das, was die Monsanto-Mitarbeiter einander schrieben, den Verdacht, die Firma könnte Ende der neunziger Jahre eine kritische Krebsstudie unter Verschluss gehalten und deren Warnungen ignoriert haben. E-Mails legen überdies nahe, dass entlastende Studien passagenweise von Konzernmitarbeitern verfasst, aber unter dem Namen scheinbar unabhängiger Wissenschaftler veröffentlicht wurden. Es gibt sogar Hinweise, dass für erwünschte Ergebnisse Geld floss. Die US-Journalistin und Aktivistin Carey Gillam schilderte im EU-Parlament eine "Choreografie der Verschleierung". Außerdem seien Kritiker, auch WHO-Wissenschaftler, in "orchestrierten Hetzkampagnen" diskreditiert worden.
Monsanto bestreitet, auf Studieninhalte Einfluss genommen zu haben, weigerte sich aber, den EU-Parlamentariern Rede und Antwort zu stehen. Aufseiten der Behörden bestreitet BfR-Präsident Hensel, dass die Monsanto-Papiere die eigenständige Bewertung beeinflusst haben. Bei der einzigen Studie, die für den Bewertungszeitraum relevant sei, habe die Zusammenarbeit des Autors mit dem Konzern offengelegen. Auch Hensel blieb dem EU-Hearing fern. So betonten dort die Lebensmittelbehörde Efsa und die EU-Chemikalienagentur, dass weitere internationale Aufsichtsbehörden Glyphosat einen Freispruch erteilt hätten.
Laufzeitverlängerung für ein überholtes Agrarsystem
Das konnte viele EU-Parlamentarier aber nicht mehr überzeugen. Schließlich irrten wissenschaftliche Mehrheiten schon bei anderen Themen. Glyphosat liefere selbst Beispiele für Fehleinschätzungen, sagt der grüne EU-Abgeordnete Martin Häusling. Jahrzehntelang habe gegolten, dass sich das Gift in der Umwelt besonders schnell abbaue. Nun finde man doch Spuren weitverbreitet in Böden und Gewässern. Mit einigen Kollegen fordert Häusling jetzt einen Untersuchungsausschuss zu den Monsanto-Papieren - und eine Reform des Prüfverfahrens für Wirkstoffe.
Das Herbizid ist für viele zum Symbol für den notwendigen Systemwechsel in der Landwirtschaft geworden. "Die Zeit ist reif für den Glyphosat-Ausstieg": Die Rhetorik der grünen Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt spielt nicht zufällig auf die Energiewende an. Weil das Herbizid so breitflächig eingesetzt wird, bietet es für die "Agrarwende" einen wirkungsvollen Hebel. Außerdem hat es - auch wenn die Gesundheitsgefahren die Schlagzeilen bestimmen - noch viele andere klar belegte Nebenwirkungen.
Zum Beispiel für die Vielfalt der Arten. Glyphosat-Äcker wirken kahl wie reingewischte Küchenfußböden. Wo sämtliche Störenfriede vernichtet werden, wächst buchstäblich kein Gras mehr. Vielen Bodenlebewesen, Insekten und Vögeln fehlen dadurch Nahrungsquellen und Lebensräume. In einigen Regionen der USA hat das Breitbandherbizid zudem Resistenzen bei "Superunkräutern" bewirkt. Nur noch aggressivere Pestizide können dagegen etwas ausrichten.
Für viele Kritiker gilt zudem: Glyphosat gesagt, Gentechnik gemeint. Dass sie dem Herbizid widerstehen können, ist eine der beiden meistverbreiteten Eigenschaften gentechnisch veränderter Organismen in den Mais- und Soja-Monokulturen der USA und Südamerikas. Über den Import dieser Futtermittel würde ein Verbot in Europa auch den globalen Handel treffen. Es könnte Landwirte diesseits wie jenseits des Atlantiks dazu bringen, ihre Felder mit noch giftigeren Pestiziden zu bestellen - oder ernsthaft ökologisch verträglicher.
Dass ein solcher Kurswechsel fällig ist, wissen Monsanto und andere Agrarkonzerne längst selbst. Mit Hochdruck arbeiten sie an neuen Technologien und Produkten. An ihren alten wollen sie jedoch ebenso verdienen, solange es geht. Auch das erinnert an jene großen Energieriesen, die weiter Strom aus Kernkraft oder Kohle verkaufen wollen, während sie schon Sonnen- und Windenergie vermarkten. Bei Glyphosat streitet das Agrobusiness jetzt für eine Laufzeitverlängerung.
Bei so vielen macht- und wirtschaftspolitischen Auswirkungen erscheint der Wirkstoff beinahe als too big to fail. Und too big to decide? Auch dieser Aspekt steht hinter der europäischen Lähmung: Traut sich Europa nicht, Glyphosat zu verbieten?
Zehn weitere Jahre für das Totalherbizid: Mit diesem Vorschlag will EU-Kommissar Andriukaitis kommende Woche in die Abstimmung gehen. Viele EU-Regierungen folgen dem Plazet, das die Efsa Glyphosat erteilt hat. Einige aber sehen das Vorsorgeprinzip nicht mehr erfüllt. Dieser Rechtsgrundsatz besagt, dass nur Stoffe in Europa zugelassen werden dürfen, wenn sie zweifelsfrei unschädlich sind. Malta, Italien und Österreich wollen mit Nein stimmen, genauso Frankreich, das in Europa ein agrarpolitisches Schwergewicht ist.
Umso mehr blicken nun alle auf Deutschland. Bislang hat sich die Bundesregierung der Stimme enthalten, weil der Bundeslandwirtschaftsminister für, die Umweltministerin gegen eine Verlängerung votiert. In einer Jamaika-Koalition ist Glyphosat ein noch größerer Zankapfel: Hier steht Schwarz-Gelb versus Grün.
Sollte Andriukaitis mit seinem Vorschlag scheitern, würde er vermutlich in der nächsten Verhandlungsrunde die Dauer der Genehmigung für Glyphosat verkürzen und strengere Auflagen für den Einsatz anbieten. Auf so einen Kompromiss dürften Frankreich und Italien einschwenken. Gäbe es Ende des Jahres noch immer keine Einigung, müsste die EU-Kommission ein Machtwort sprechen. Diesen Schwarzen Peter werde er jedoch nicht annehmen: So macht Andriukaitis den EU-Staaten Druck. Doch auch Nichthandeln wäre dann eine Entscheidung: In dem Fall liefe die Genehmigung einfach aus.