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Berliner Zeitung - VON STEFAN SAUER
Es geht ums Überleben im Überfluss. Für Deutschlands Milchbauern ist Überfluss das eigentliche Problem. Es gibt zu viel Milch, in Deutschland, in Europa, überall auf der Welt. Die Preise sinken seit Monaten. Im Juni 2014 erhielten hiesige Landwirte für das Kilogramm Rohmilch noch 38,18 Cent. Ein Jahr später waren es nach Angaben des Deutschen Bauernverbands (DBV) nur noch 28,78 Cent. Im August wurden an manchen Tagen nur noch 26 Cent gezahlt.
Auf dem Weltmarkt sieht es nicht besser aus. Nach Angaben des Branchendiensts Agrarheute sanken die Erzeugerpreise zwischen Februar 2014 und August 2015 um 60 Prozent. "In Deutschland und anderen EU-Ländern kämpfen die Bäuerinnen und Bauern ums Überleben", sagt Martin Häusling, der Agrarexperte der Grünen im Europaparlament. Viele Landwirte stünden mit dem Rücken zur Wand.
Doch sie wehren sich. Nach Protesten in Frankreich, Polen und Deutschland hat nun der Bund Deutscher Milchviehhalter für diesen Dienstag zu einer Großdemonstration in München aufgerufen.

Quotierung zum 1. April beendet
Was läuft da schief? Was die Milch betrifft, ist der Befund simpel: Die Menge macht's. Bereits in den 70er-Jahren wurde in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Milch erzeugt als verbraucht. Schon damals gab es milliardenschwere Subventionen für die Landwirte aus Brüssel, die die Produktion über Bedarf hoch hielten. Um der "Milchseen" und "Butterberge" Herr zu werden, wurden 1984 Quoten eingeführt, die jedem Mitgliedsland ein bestimmtes Produktionsvolumen zuwies, das die Einzelstaaten dann wiederum auf die Erzeugerbetriebe verteilten. Landwirte, die mehr als erlaubt produzierten, mussten eine sogenannte Superabgabe an Brüssel entrichten, die zuletzt 22 Cent pro Kilo betrug.
Die erlaubte Gesamtmenge wurde mehrfach angehoben, in den Jahren 2006 bis 2008 um insgesamt 1,5 Prozent, zwischen 2009 und 2013 um jeweils ein Prozent pro Jahr. Trotz dieser Ausweitung wurde stets mehr erzeugt, als die Quoten vorsahen, mit entsprechen hohen Superabgaben für die Überproduktion. Im zurückliegenden Wirtschaftsjahr zahlten die Bauern in der EU 800 Millionen Euro für zu viel erzeugte Milch, allein aus Deutschland kamen 309 Millionen. Ein Rekord für die Ewigkeit, denn zum 1. April dieses Jahres wurden die Milchquoten im Zuge der EU-Marktliberalisierung vollends abgeschafft. Seither gibt es keinerlei Mengenbegrenzung mehr.

Den Milchpreisverfall in kurzer Zeit umzukehren, ist aus mehreren Gründen kaum möglich. Ein Autobauer, dessen Absatz in China stockt, kann vielleicht auf anderen Absatzmärkten den Rückgang in Fernost kompensieren. Oder er lässt auf Halde produzieren, verlängert die Betriebsferien, meldet Kurzarbeit an oder legt Produktionskapazitäten still. Das alles geht in der Milchwirtschaft nicht, jedenfalls nicht so schnell. Je nach Rasse und Haltungsbedingungen geben die Tiere zwischen 15 und 25 Liter Milch pro Tag, die wegen der begrenzten Haltbarkeit - auch zu niedrigen Preisen - verkauft werden muss.
Laut Häusling müssten die Erlöse bei mindestens 35 Cent pro Liter liegen, um die Produktionskosten zu decken und einschließlich der EU-Subventionen einen zumindest kleinen Gewinn einzufahren. Davon sind die allermeisten weit entfernt, auch weil sich viele Milchbauern hoch verschuldet haben und ihre Kredite bedienen müssen. Ein moderner Stall schlägt mit rund 10 000 Euro pro Stellplatz zu Buche. Hinzu kommen rasant gestiegene Pachtpreise für die Futtermittel-Flächen. Da summiert sich der Finanzbedarf leicht auf sechs- bis siebenstellige Beträge, die sich viele Landwirte in Erwartung auskömmlicher Erlöse bei den Banken geliehen haben.

Mitschuld daran tragen EU und Bundesregierung, die den Bauern steigende Absatzchancen im Ausland verhießen und so die Ausweitung der Erzeuger-Kapazitäten beförderten. Tatsächlich entwickelten sich die Ausfuhren aber enttäuschend. Der russische Boykott von Lebensmitteln aus der EU trug wesentlich dazu bei, und auch der Export nach China, auf den die hiesige Milchwirtschaft besonders gesetzt hatte, blieb hinter den Erwartungen zurück.
Enorme Investitionen, hohe Schulden, niedrige Preise - die Landwirte stecken in der Klemme. "Den Kollegen geht jetzt wirklich der Hintern auf Grundeis", sagt Häusling, der selbst einen Biomilchbetrieb mit 80 Kühen in Nordhessen unterhält. Die Botschaft ist mittlerweile in der Bundesregierung angekommen. Agrarminister Christian Schmidt (CSU) trifft an diesem Montag mit seinen Amtskollegen aus Polen und Frankreich zusammen, um für den Sondergipfel der EU-Agrarminister am 7. September gemeinsame Positionen abzustecken.

In Neuseeland noch weniger Erlös
Viel mehr als zeitlich begrenzte Nothilfe-Maßnahmen werden dabei kaum herauskommen. Wohin die Reise gehen könnte, deutete DBV-Präsident Joachim Rukwied am vergangenen Mittwoch an. Bei einem Treffen mit Minister Schmidt forderte er höhere Bundeszuschüsse für die landwirtschaftliche Unfallversicherung, Staats-Bürgschaften für Betriebe, die Stundung von Steuerschulden und vorgezogene Auszahlungen der EU-Subventionen. Zudem müsse die Politik der deutschen Landwirtschaft neue Exportmärkte erschließen, etwa durch den Abbau von Handelshemmnissen.
Ob dieser Weg erfolgversprechend ist, scheint zweifelhaft. Schließlich gibt es auch auf dem globalen Milchmarkt ein Überangebot. Der weltweit größte Erzeuger, der neuseeländische Milchexporteur Fonterra mit mehr als 15 000 Mitarbeitern, gab vor zwei Wochen die Kündigung von 523 Mitarbeitern bekannt, um die Jahresproduktion um 63 000 Tonnen Rohmilch zu reduzieren. Dabei liegen die Erzeugerpreise am anderen Ende nur rund halb so hoch wie in Europa. International ist die europäische Landwirtschaft nur wegen der noch immer gigantischen Agrar-Subventionen aus Brüssel in Höhe von 45 Milliarden Euro pro Jahr wettbewerbsfähig.

Anstatt weiter auf Masse, Export und Staatshilfen zu setzen, plädiert Grünen-Politiker Häusling dafür, sich langfristig auf den EU-Markt mit seinen mehr als 400 Millionen Menschen zu konzentrieren. Für hochwertige Erzeugnisse seien Erlöse zu erzielen, die sogar die EU-Subventionen eines Tages überflüssig machen könnten. "Der Erzeugerpreis für Bio-Milch liegt derzeit bei gut 47 Cent. Vor einigen Jahren, als der Unterschied zu konventioneller Milch nur fünf Cent ausmachte, haben viele Kollegen über uns gelacht. Heute lacht niemand mehr."

WEISSE WARE
Vier Millionen Milchkühe gibt es nach Angaben des Agrarministeriums in Deutschland, die meisten in Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
28 Millionen Tonnen Milch geben die Kühe im Jahr. Deutschland ist damit der größte Milchprozent in Europa. 44 Prozent der hiesigen Milch gehen in den Export.
Jeder Deutsche nimmt pro Jahr 83,3 Kilogramm Frischmilcherzeugnisse zu sich, darunter 23,7 Kilogramm Käse. Das hat das Statistische Bundesamt errechnet (2012).
Wichtige Kalziumlieferanten sind Milch und Milchprodukte. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, pro Tag 1 000 Milligramm Kalzium zu sich zu nehmen - ein Glas Milch, einen Joghurt plus zwei Scheiben Hartkäse. Milch enthält zudem Kalium, Magnesium und Jod, viele Vitamine, hochwertiges Eiweiß und fast alle Aminosäuren.
Laktoseintolerant sind etwa 15 Prozent der Deutschen, sie vertragen keine Milch. Den Betroffenen fehlt ein Enzym, das den Milchzucker zerlegt. Trinken sie trotzdem Milch, leiden sie unter Völlegefühl, Bauchschmerzen und Übelkeit. In Asien vertragen 90 Prozent der Menschen Milch nicht.
Gegner der Milch behaupten, dass sie Fettleibigkeit verursachen und Allergien auslösen kann, dass sie verantwortlich für Hautprobleme ist, Asthma, Diabetes und sogar Krebs fördert. Grund dafür sollen die artfremden Proteine in der Milch sein, gegen die sich der Körper wehrt. Das Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel teilt die Bedenken nicht.
Werbung: "Milch macht müde Männer munter" - so dichtete in den 50er-Jahren die Centrale Marketing-Gesellschaft der westdeutschen Bauern. Heute ist der Werbeslogan biederer: "Milch ist meine Stärke".

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